Ein Schicksal

Ein Schicksal

Das Meer geht hoch, der Christabend graut,
Die Barke naht, vom Nebel dicht umbraut.
Sie trägt den Jüngling, den vom festen Land
Die Sehnsucht zieht zum heim’schen Inselstrand,
Wo ihn erharrt der Eltern trautes Dach,
Wo für ihn pocht des treusten Herzens Schlag -
Dort steigt ganz nah’ der Inselstrand herauf,
Dem Fuhrmann gönnt der Jüngling kurzen Gruß
Und steigt ans Land mit froh beschwingtem Fuß -
Der Fährmann rudert heim, der Jüngling eilt
Zum trauten Haus, wo ihm die Liebe weilt. -
Doch weh, wie wird ihm, schaudernd sinkt sein Mut.
Äfft ihn ein Trug? Zu Eis erstarrt sein Blut:
Wohin er blickt, er sieht kein Dorf, kein Haus,
Wohin er geht, grüßt ihn des Meeres Braus;
Das ist die Insel nicht, die ihn gebar,
Die nahe Sandbank ist’s, nun sieht er’s klar,
Der Nebel hat getäuscht des Fährmanns Blick,
Und ihn erharrt ein grässliches Geschick: -
Denn diese Bank, die jetzt dem Meer entsteigt,
Wird rasch – er weiß es – von der Flut erreicht,
Schon naht sie her, durch dichte Nebelwand
Dringt, ach, kein Schrei zum teuren Heimatstrand.
Stets dunkler wird’s; horch! In des Meer’s Gesang
Vom Eiland her tönt milder Glockenklang;
Indes die Flut schon kalt den Fuß ihm nässt,
Einläuten sie das frohe Weihnachtsfest;
Zum Kirchlein nun zieht seiner lieben Schar,
Weh! Ahnt kein Sinn die grässliche Gefahr?
So nah das Land! Die Rettung, ach, so leicht!
Umsonst! Er fühlt’s, wie jäh die Sorge steigt;
Er weiß: im Kirchlein, durch die heil’ge Nacht.
Nun tönt’s: “Das ist der Tag, den Gott gemacht”,
Und von der Kanzel tut des Vaters Mund
Der Christenschar die frohe Botschaft kund;
Wie oft vordem lauscht’ er dem Wort mit Lust.
Und sang das Lied aus kindlich-frommer Brust!
Herauf vor ihm steigt seiner Jugend Bild,
So freundlich-klar, so still-vertraut, so mild!
Dann hüllt ihn ein der Woge grauer Schaum
Und spült hinweg des Lebens bangen Traum;
Und als des Christtags düstrer Morgen graut,
Hängt starr am starren Mund die bleiche Braut.

Albert Möser 1803 – 1867

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