Gedichte an Weihnachten

Gedichte an Weihnachten

Der gleitende Purpur

“Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!”
schallt im Münsterchor der Psalm der Knaben.
Kaiser Otto lauscht der Mette,
Diener hinter sich mit Spend’ und Gaben.

Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Heute, da die Himmel niederschweben,
wird dem Elend und der Blöße
Mäntel er und warme Röcke geben.

Hundert Bettler stehn erwartend;
einer hält des Kaisers Knie umfangen
mit den wundgeriebenen Armen,
dran zerriss’ner Fesseln Enden hangen.

“Schalk! Was zerrst du mir am Purpur?
Harr’ und bete! Kennst du mich als Kargen?”
Doch der Bettler hält den Mantel
fest und klammert: “Kennst du mich, den Argen?

Du Gesalbter und Erlauchter!
Kennst du mich? Du hast mit mir gelegen,
mit dem Siechen, mit den Wunden,
unter eines Mutterherzens Schlägen.

Aus demselben Wollentuche
schnitt man uns die Kappen und die Kleider!
Aus dem selben Palmenbusche
sang das frischen Jugendantlitz beider!

Heinz, wo bist du? Heinz, wo bleibst du?
Hast zum Spielen du mich oft gerufen
durch die Säle, durch die Gänge,
auf und ab der Wendeltreppe Stufen.

Wehe mir! Da du dich kröntest,
hat des Neides Natter mich gebissen!
Mit dem Lügengeist im Bunde
hab ich dieses deutsche Reich zerrissen!

Als den ungetreuen Bruder
und Verräter hast du mich erfunden!
Du ergrimmtest und du warfest
in die Kerkertiefe mich gebunden!

In der Tiefe meines Kerkers
hab ich ohne Mantel heut gefroren.
Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Heute wird der Welt das Heil geboren!”

Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Hundert Bettler strecken jetzt die Hände:
“Gib uns Mäntel! Gib uns Röcke!
Sei barmherzig! Gib uns Spende!”

Eine Spange löst der Kaiser
sacht. Sein Purpur geleitet, gleitet, gleitet
über seinen sünd’gen Bruder
und der erste Bettler steht bekleidet.

Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Jubelt Erd’ und Himmelreich mit Schallen.
Glorie! Glorie! Friede! Freude!
Und am Menschenkind ein Wohlgefallen!

Conrad Ferdinand Meyer 1825 – 1898

Der Großmutter Weihnachtsabend

Großmutter lauscht dem Klang der Weihnachtsglocken
Und hat gedankenvoll ihr Haupt gebeugt,
Es fallen auf die Hand die greisen Locken,
In stiller Rührung wird die Wimper feucht.
Und horch, daneben tönt ein munt’res Lärmen,
Es stürmen ihre Enkel in den Raum
Und drängen jubelnd sich in frohen Schwärmen
Rings um den bunt geputzten Weihnachtsbaum.

In diesen Kindern sprießet frisches Leben
Und reift entgegen einer neuen Zeit,
Hier keimet Kraft, die einst ihr ganzes Streben
Der Menschheit ew’gen Freiheitskampfe weiht;
Für alles Große, Herrliche hienieden,
Wie streiten einst die Knaben stark und kühn, -
Und Herzensreinheit, Sitte, Liebe, Frieden,
Wird einst in diesen Mädchen weiter blühn.

Großmutter denkt der eignen Kinderzeiten,
Sie sieht im Elternhaus den Weihnachtsbaum,
Und bunte Bilder ihres Lebens gleiten
An ihrem Geist vorbei in wachem Traum:
Sie sieht sich glücklich an des Gatten Seite,
Im süßen Heim, das ihr die Lieb’ erbaut,
Und fröhlich spielen ihre Knaben beide
Am Weihnachtstisch mit hellem Jubellaut.

Die Eltern hin – der Gatte längst begraben,
Die Söhne tot, mit ihnen tot ihr Glück:
Doch nein, hier reifen ihrer Söhne Knaben,
Wohl reiches Leben ließen sie zurück:
“Mich beugt danieder schon der Jahre Winter,
“Euch blüht empor die goldne Frühlingszeit,
“Für euch die Zukunft, ihr geliebten Kinder,
“Doch mein, doch mein ist die Vergangenheit!”

Großmutter lauscht dem Weihnachtsglockenklange,
Ein seltsam Lächeln spielt um ihr Gesicht,
Sie ahnet wohl, es währet nicht mehr lange,
Bis dass das letzte Glöcklein spricht!
Es färbt ein leises Rot die welke Wange,
Die Hände betend sie gefaltet hält:
Großmutter hat im Weihnachtsglockenklange
Wohl einen Gruß gehört aus jener Welt!

Helene von Engelhardt 1850 – 1910

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